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EIN MANN FÜR VIELE FÄLLE

HANS-JÜRGEN EICHHORN HAT IN MEHRERER HINSICHT MASSSTÄBE GESETZT – NICHT NUR AUF LINKSAUSS
Das Aufeinandertreffen war eine Frage der Zeit. Schließlich liefen sich irgendwann alle über den Weg, die an der Deutschen Hochschule für Körperkultur, noch bekannter unter dem Kürzel DHfK, studierten oder unterrichteten. Im Falle von Hans-Jürgen Eichhorn, dem Studenten, und Hans-Gert Stein, dem Hochschullehrer und Handball-Trainer, war es jedoch gleich der erste Tag, als sich ihre Wege kreuzten. Eine Begegnung mit Folgen.
Der gerade immatrikulierte Student ging Ende August oder Anfang September 1962 jedenfalls über den langen Flur, um sich zu orientieren und vertraut zu machen mit der neuen Umgebung, in der er die nächsten Jahre verbringen würde. Der 18-Jährige war aus Magdeburg gekommen, um wie alle seine Kommilitonen Diplomsportlehrer zu werden. „Da stand plötzlich Hansi Stein vor mir und wollte wissen, was ich hier mache“, erzählt Eichhorn.

Beide kannten sich. Wobei das mit dem Kennen vielleicht etwas übertrieben ist, aber wenn der eine, Eichhorn, zuvor bei den Handball-Meisterschaftsendrunden der Jugend in Berlin mit den Magdeburgern durchaus überzeugt hatte, war das dem Beobachter und Mann vom Fach aus Leipzig, Stein, natürlich nicht verborgen geblieben. Jetzt trafen sie in unmittelbarer Nähe der Grube-Halle unerwartet aufeinander, und der junge Mann antwortete höflich, dass er eben hier ab sofort studieren werde. Und wie sei das mit dem Handball? Wolle er nicht beim SC DHfK mitspielen?, fragte Stein. Eichhorn sagte sofort zu und bezog unmittelbar nach dem Gespräch Quartier im Internat des Sportclubs in der Friedrich-Ebert-Straße.

So ganz selbstverständlich erscheint Eichhorns Zusage keineswegs. Denn er hatte schon zuvor auch schon als Leichtathlet von sich reden gemacht. Schließlich war er wenige Wochen zuvor als A-Jugendlicher im damaligen Karl-Marx-Stadt DDR-Meister im Dreisprung geworden. Seine Siegsprung-Weite von 14,76 m nimmt sich auch heute noch beachtlich aus, die vom internationalen Verband geforderte Qualifikation für die Olympischen Spiele 1964 in Tokio betrug einen Zentimeter weniger. Eichhorn hatte gewissermaßen auch seinen Titel verteidigt, denn als B-Jugendlicher war er zwei Jahre zuvor ebenfalls Bester der Konkurrenz bei den Meisterschaften in Schwerin – jene Stadt, die in seinem Leben noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Die olympische Goldmedaille bei den Spielen in Japan ging übrigens an Jòzef Szmidt aus Polen mit 16,85 m. Einen halben Meter weniger schaffte der Rostocker Manfred Hinze und wurde als Sechster bester Deutscher. Dass Eichhorn in diese Bereiche hätte vorstoßen können, galt nicht als ausgeschlossen.
Doch Hop, Step und Jump, die drei Teilsprünge des Dreisprungs, rückten für ihn mehr und mehr in den Hintergrund. Der Handball wurde in seinem sportlichen Leben zur Nummer eins, nachdem er beides lange parallel betrieben hatte. Weil er als Rechtshänder beim Wurf mit dem linken Fuß absprang, hatte er beim Dreisprung den Rhythmus geändert, um das linke Beim zu stärken. „Normalerweise springt man beim letzten Sprung, also dem Jump, mit dem stärkeren Bein ab“, erklärt Eichhorn. Aus links, links, rechts wurde bei ihm also rechts, rechts, links, und wenn er später von seiner Linksaußen-Position in den Kreis flog, konnte man deutlich sehen, dass da ein enorm kräftiger Absprung vorausgegangen war. Er überraschte die gegnerische Abwehr auch mit Sprungwürfen aus dem Rückraum, was bei einer Körpergröße von 1,76 m nicht selbstverständlich ist. Seine ausgeprägte Springkraut machte es möglich.

Die Entscheidung für den Handball hat er nicht bereut. Sicher auch deshalb nicht, weil sich relativ schnell Erfolge einstellten. Dass der Ex-Magdeburger zunächst auch kurzzeitig in der zweiten Mannschaft des SC DHfK eingesetzt wurde, steht dazu keineswegs im Widerspruch. Denn Eichhorn erhielt dort Einsatzzeiten, die ihm vermutlich in der „Ersten“ nicht auf Anhieb zugebilligt worden wären. Als der SC DHfK in der Saison 1964/65 Meister wurde, stand er bereits in den meisten Fällen in der Stammformation, in der folgenden Europapokal-Saison, die mit dem Triumph in Paris endete, gehörte der ehemalige Dreispringer zu den Leistungsträgern im Team – als Jüngster. Am 22. April 1966, als die Leipziger im EC-Finale bezwangen, war Hannes Eichhorn gerade 22 Jahre alt.
„Ich war sozusagen das Küken in der Mannschaft“, sagt er. Doch es sei ihm leicht gemacht worden, es habe einfach alles gestimmt. „Die Zusammensetzung hat einfach gepasst, weil eben auch viele erfahrene Spieler dabei waren.“ Paul Tiedemann und Klaus Langhoff zum Beispiel. Und fast alle hatten wie er eine Leichtathletik-Vergangenheit. Auch das Studium habe viele Reize gesetzt, die seiner sportlichen Entwicklung sehr dienlich gewesen wären. „Wir mussten ja alle möglichen Übungen in vielen Sportarten absolvieren, das hat viele Muskelgruppen entwickelt.“ Nicht alles sei angenehm gewesen. Was ihm unter anderem in der Gymnastik abverlangt wurde, wäre schon eine ziemliche Herausforderung gewesen. So ganz vorschriftsmäßig sei ihm da wohl nicht alles gelungen. Doch auch das führte zu einem guten Ergebnis. Der junge Handballer musste sich dann oft die entsprechenden Bemerkungen einer Studentin anhören, die ihn dabei beobachtete – beide haben 2018 ihre (gemeinsame) Goldene Hochzeit gefeiert.

Aus dem ehemaligen Dreispringer war längst einer der besten Linksaußen in der DDR-Oberliga geworden. Seine Berufung in die Nationalmannschaft erschien daher folgerichtig. Eichhorn kam auf 38 Einsätze und warf dabei 62 Tore. Wobei man wissen muss, dass damals bei weitem nicht so viele Länderspiele ausgetragen wurden wie heute. 1967 gehörte er zur DDR-Auswahl, die bei der WM in Schweden Platz neun belegte. Ein Punkt hatte nach der Vorrunde zum Einzug ins Viertelfinale gefehlt.
1971 brach Eichhorn seine Zelte in Leipzig ab. Nicht etwa im Groll, aber die Mannschaft hatte sich personell sehr verändert und mit einer modernen Wohnung wollte es auch nicht so recht klappen. Da fügte es sich gut, dass ihm sein einstiger DHfK-Weggefährte Erwin Kaldarasch fragte, ob er denn nicht nach Schwerin kommen und für Post in der Oberliga spielen wollte. Die Mecklenburger waren ins DDR-Oberhaus aufgestiegen und konnten einen Linksaußen mit solchen Qualitäten gut gebrauchen. Eichhorn sagte zu und sorgte mit seinem neuen Team für so manche Überraschung gegen die etablierten Sportclubs. Bis 1978 spielte er in der Oberliga, war danach Spielertrainer der zweiten Mannschaft. Dem Verein blieb er in mehreren Funktionen verbunden, als Mitglied des Vorstandes, der Abteilungsleitung und als Pressewart der Handball-Bundesliga GmbH – und das über 15 Jahre stets im Ehrenamt.
Handball-Geschichte schrieb der EC-Sieger noch einmal. 1980 tauchte er wieder in der höchsten DDR-Spielklasse und kurz danach auf internationalem Parkett auf. Eichhorn war Schiedsrichter geworden, was für ehemalige Spieler – erst recht seiner Klasse – alles andere als selbstverständlich ist. Heinz Seiler, einstiger DDR-Auswahltrainer, hatte ihn überredet, nachdem sein ehemaliger Schützling ein Vorspiel der DDR-Nationalmannschaft geleitete und offenbar richtig gut gemacht hatte. „Ich wollte kein Heimschiedsrichter sein und auch keiner, der die Auswärtsmannschaft bevorteilt.“ Beides hatte er in seiner aktiven Zeit erlebt. Und beides war er nicht, wie ihm Wieland Schmidt bescheinigt.
„Wir haben zwar alle gestaunt, dass Hannes das gemacht hat. Aber bei ihm ging es für beide Seiten immer fair zu“, erinnert sich der ehemalige Magdeburger Torhüter und Olympiasieger von 1980. „Vor allem hat er immer gut kommuniziert, was ich heute vermisse. Und er wusste immer, wie die Spieler ticken und hat deshalb auch mal weggehört, wenn ich wieder mal zu impulsiv war.“
Bis 1990 hat Eichhorn auch in diesem Metier Maßstäbe gesetzt. Wie schon zuvor als jugendlicher Dreispringer und späterer Handball-Linksaußen.

Autor: Winfried Wächter
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