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DIE GROSSEN FUSSSTAPFEN DES KAPITÄNS

PAUL TIEDEMANN WAR DER KOPF DER EC-SIEGERMANNSCHAFT – TROTZ GEWISSER SCHWÄCHEN
Es war Halbzeit und Zeit für eine Entscheidung. Auf der linken Abwehrseite hatte der SC DHfK am 22. April 1966 im Finale des Europapokals der Landesmeister gegen Honved Budapest einige Schwächen offenbart. Die Leipziger führten 9:7, ihr Trainer Hans-Gert Stein stellte um. Es war nicht zu übersehen, dass Paul Tiedemann mit seinem Gegenspieler nicht zurechtkam. So wurde Klaus Langhoff auf die linke Seite beordert, Tiedemann nach rechts. Der Vorsprung wurde gehalten, am Ende bejubelten die Sachsen ihren 16:14-Erfolg.

Tiedemann war Kopf der Mannschaft. Passte eine solche Maßnahme des Trainers zu dessen Rolle als Kapitän? „Klar“, sagt sein damaliger Mannschaftskamerad Wolf-Dietrich Neiling, „das hat Pauls Ansehen in keiner Weise geschadet. Wir haben immer gewusst, wie wichtig er für uns ist.“ Dass Tiedemann nicht gerade als Abwehrspezialist galt, war ohnehin bekannt. Seine Stärken lagen im Angriff, seine Wurfvariabilität (mit der Spezialität Sprunghüftwurf) und seine Anspiele an die Mitspieler waren legendär. Mit gerade mal 1,80 m verfügte der Rückraumspieler nicht über das im Handball gewohnte Gardemaß und musste sich daher einiges einfallen lassen, um die Gegner zu überraschen. Die Fans liebten ihren Paule, für viele galt (und gilt) er als der beste Leipziger Handballer aller Zeiten. Was er nicht akzeptierte, wenn er darauf angesprochen wurde. Stets nannte er dann viele andere Namen, stellvertretend Peter Randt, die Brüder Karlheinz und Peter Rost, Axel Kählert, Lothar Doering, Horst Jankhöfer, Horst Pahlitzsch, Wolfgang Niescher oder Peter Kretzschmar. Auch von den Leipziger Torhütern hielt er viel, stellte Klaus Franke, Siegfried Voigt und Peter Hofmann ebenfalls in diese Reihe

Den Aufstieg des SC DHfK in die Bundesliga hat Tiedemann nicht mehr erlebt. Das Aushängeschild des Leipziger Handballs starb am 21. September 2014 in einem Pflegeheim in Linz im Alter von 79 Jahren. Am Ende der laufenden Spielzeit hatten seine Nachfolger den Sprung ins Oberhaus geschafft.
1958 kam der junge Mann aus Radeburg zum SC DHfK, führte die Mannschaft von der Kreisklasse bis in die DDR-Oberliga, sechsmal holte sie die Meisterschaft. 1967 bestritt er in Schwerin gegen Ungarn sein 100. und letztes Länderspiel – er war der erste deutsche Handballer, der diese Zahl errichte.

Tiedemann wurde Trainer. Zunächst betreute er den SC DHfK, später die DDR-Nationalmannschaft. Mit ihr erlebte er bei den Olympischen Spielen in Moskau eine Sternstunde, als im dramatischen Finale die Sowjetunion 23:22 besiegt wurde. 1976 war er Cheftrainer der Nationalmannschaft geworden. Vorher hatte die DDR in jenem denkwürdigen Spiel gegen die Bundesrepublik – Hans Engel war in der letzten Sekunde mit einem Siebenmeter am Großwallstädter Torhüter Manfred Hofmann gescheitert – die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Montreal verpasst. In der Endabrechnung fehlte ein Tor, der 11:8-Sieg konnte die 14:17-Niederlage von München nicht wettmachen. Tiedemann baute das Team neu auf und wurde vier Jahre später mit dem sensationellen Olympiasieg belohnt. „Es hat riesigen Spaß gemacht, mit diesem Team zu arbeiten“, sagte er vor einigen Jahren. Es sei eine wunderbare Harmonie gewesen, ohne dass etwa Kritik unterdrückt worden wäre. Lothar Doering, Spieler in dieser Mannschaft, bestätigt das. „Mit Paul könnte man immer reden, er hatte für jeden ein offenes Ohr und strahlte während des Spiels immer große Ruhe aus.“ Daran orientierte sich Doering, als er in die großen Fußstapfen seines ehemaligen Lehrmeisters trat. Erfolgreich, wie sich zeigte, Doering gewann 1992 mit den Frauen des SCL den letzten Europapokalsieg einer Leipziger Mannschaft und ein Jahr später mit dem Nationalteam die WM – auf eine Wiederholung dieses Erfolgs wartet er bislang vergeblich.
Nach den Olympischen Spielen 1988 ging Tiedemann ins Ausland. Die isländische Nationalmannschaft sollte er ursprünglich übernehmen. „Der Vertrag war schon unterzeichnet und in der Westpresse zum Teil öffentlich geworden. Da hat sich die Sportleitung in einer Sondersitzung mit meinem Fall nochmal beschäftigt und die Sache abgesagt“, erklärte Tiedemann.

Die Absage erfolgte zur Freude der Ägypter, die ihn schon viel früher haben wollten. Dort also „landete“ er und erlebte oder besser erfuhr auch von der Wende zu Hause. Dass er nicht sofort großen Anteil am Geschehen in der Heimat nahm, hängt mit dem Tod seiner Frau zusammen. Sie arbeitete als Lehrerin in der Botschaft in Kairo, wurde jeden Morgen abgeholt und am 26. Februar 1990 beim Warten auf das Auto von einem anderen Fahrzeug angefahren.
Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte: Tiedemann mit dem Europapokal der Landesmeister
Tiedemanns nächste Station wurde das österreichische Linz, wo er den dortigen Verein bis ins Endspiel des EHF-Cups brachte. Das geriet ihm allerdings zum Nachteil, denn auf solchen Erfolg waren die Linzer nicht eingestellt – nach den vielen Reisen war das Geld alle. Somit wurde Tiedemann arbeitslos und war schon mal dabei, seine Unterlagen für die Rente zu ordnen, als ihn Ende 1996 das Angebot aus der Bundesliga vom VfL Hameln erreichte. Er hatte Bedenken, „schließlich hatte ich die Wende gewissermaßen aus zweiter Hand erlebt. Und für die meisten DDR-Trainer gab es ja in Deutschland kaum eine Chance.“ Aber er wurde sehr freundlich aufgenommen. Vielleicht auch deshalb, weil in Hameln mit Wieland Schmidt und Frank Wahl, beide gehörten zu den Olympiasiegern von 1980, ostdeutsche Spieler Klasse-Leistungen geboten hatten. Er schaffte mit dem VfL den erhofften Klassenerhalt und lehnte die geplante Verlängerung ab.

Für den Leipziger Handball hat er sich in dieser Zeit auch interessiert und nannte ihn ein Trauerspiel, da er durch die SG LVB nur noch ein drittklassiges Dasein fristete. Die großen Zeiten waren für viele Jahre vorbei, bis der SC DHfK 2007 einen Neunfang startete. Tiedemann hätte, darüber sind sich alle seine einstigen Weggefährten einig, seine helle Freude daran.

Autor: Winfried Wächter
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